Zum Tod von Claude Lanzmann

Kultur Aktuell auf SRF 2 Kultur am 5.7.2018

Anmoderation

Der französische Regisseur und Autor Claude Lanzmann ist heute 92jährig gestorben. Weltberühmt wurde er mit seiner mehr als 9-stündigen Dokumentation «Shoah». Darin liess er Opfer und Täter des Holocaust zu Wort kommen. Bei mir im Studio ist jetzt Felix Schneider. Er hat sich intensiv mit dem Schaffen von Claude Lanzmann auseinandergesetzt und ihn auch persönlich getroffen.

Felix Schneider, die Zeitzeugen-Dokumentation »Shoah» kam 1985 heraus. Was hat der Film bei Ihnen ausgelöst?

Erschütterung, Verstörung, Faszination. Einen Abschied von materialistisch verkürzten Faschismustheorien. Zufriedenheit über die Existenz eines Gegenentwurfs zur Serie «Holocaust»  von 1978/79. Das Gefühl, dass hier etwas nahezu Unmögliches gelungen ist, nämlich die Annäherung an ein Geschehen, von dem zu Recht gesagt wurde, es zu betrachten, sei wie der blindmachende Blick in die Sonne.

Was macht den Film einzigartig?

Zunächst ist einzigartig: der absoluter Wille, DIE Wahrheit zu ergründen und weiterzugeben. Daher ja auch Lanzmanns Entschlossenheit, Täter zu überlisten und manchmal auch Opfer nicht zu schonen.

Einzigartig ist sodann die Begrenzung auf Erzählung. Es gibt in dem Film ja keine historischen Bilder, keine Dokfilmeinlagen, es gibt nur die Erzählungen der Beteiligten, der Opfer, der Täter der Zuschauer. Warum?

Lanzmann hat die Konzentration aufs Erzählen begründet: Vom Tod in den Gaskammern gibt es keine Bilder. Und, ich zitiere Lanzmann: «Die Berichte, die Tränen, die Emotionen der Zeugen sind authentischer als historische Dokumente – gelebte, noch einmal durchlebte Vergangenheit.»

Lanzmann zeigt die Orte: Wälder, Gras, Bahnhöfe – er lädt die normale, banale Gegenwart mit Vergangenheit und mit Ungeheurlichkeit auf.

Gelegentlich verdichtet er zu Symbolbildern, ich denke etwa an die Koffer.

Ganz stark setzt er auf die Stimmen: die erschreckend kalten Stimmen der Täter, die leicht verstörten (der Lokführer), die gleichgültigen (die Bauern), spöttischen, scheinbar gelassenen, gebrochenen (der Überlebenden).

Und er zeigt die Gesichter, die oft genug den Aussagen widersprechen. Da gibt es Minen, welche die Unschuldsbeteuerungen, die aus dem Mund kommen, sichtlich  Lügen strafen.

Claude Lanzmanns Autobiographie heisst «Der patagonische Hase» und ist 2009 erscheinen. Sie haben das Buch gelesen.  was zeichnet sie aus?

Unruhe, Beweglichkeit, Temperament, Weite des Horizonts. Lanzmann hat für die Unbeherrschbarkeit der Erinnerung eine neue Form gefunden. Er hat seine Erinnerungen diktiert, und was er diktierte, erschien sofort auf einem auch für ihn einsehbaren Bildschirm, sodass er ständig kommentieren, reflektieren, ergänzen, korrigieren konnte, was er sagte.

Ausserdem liefert Lanzmann im «Patagonischen Hasen» ein grosses Panorama der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts:

Lanzmann war in der Résistance in Clermont-Ferrand. Das Bild, das er davon überliefert, ist ein anderes als das von Martin Ophüls. Das ist doch interessant. Lanzmann hat Clermont nicht so stark als Stadt der Collaborateure erlebt. Er wusste von seinem Vater und seinem Lehrer nicht, dass sie ebenfalls in der KP waren. Sie wussten es von ihm nicht. Er, seine Familie lebten im Dorf. Es gab viele Mitwisser, schon in der Schule: der proviseur, der censeur, der surveillant général, mehrere Lehrer, viele Schüler.

Lanzmann hat dann in Deutschland studiert. Ausgerechnet. Deutschland war für ihn das Heimatland der Philosophie. Er war in Tübingen an der Uni, hat in Berlin Philosophie unterrichtet.

Entscheidend in philosophischer, politischer und menschlicher Hinsicht war für ihn die Begegnung mit Jean Paul Sartre. Seine Schwester Evelyne Rey wurde Sartres Geliebte, er selbst hatte ein Liebesverhältnis mit Castor, mit Simone der Beauvoir.

Lanzmann hat sich im algerischen Befreiungskrieg engagiert, er reiste in Länder, in die man damals nicht reiste: nach Nordkorea, China, Algerien, in die DDR.

Bis zu seinem Tod war er Leiter der «Temps modernes» als Nachfolger von Sartre und Simone de Beauvoir.

Er berichtet in seinem Memoiren auch offen über seine etwas seltsam anmutende Begeisterung für Flugzeuge, Motoren… Schliesslich hat er zahlreiche Filme gedreht – von unterschiedlicher Qualität übrigens.

Insgesamt sind diese Lebenserinnerungen der Bericht einer  «amour fou» mit dem Leben.

Sie haben Claude Lanzmann persönlich getroffen – wir haben sie ihn erlebt?

Egomanisch zunächst: Ich und die Resistance, ich und Sartre, ich und Beauvoir, ich und die «Temps modernes». Ich und meine Gesundheit. Er konnte sehr mürrisch sein. Wehe dem Moderator, der ihm nicht passte. Er unterzog ihn vernichtender Kritik und moderierte sich selbst. Er war auch im hohen Alter noch radikal gegenwärtig. «Zu meiner Zeit» war eine Wendung, die er verabscheute, seine Zeit war immer die jeweilige Gegenwart. Er war vital. Und masslos in allem.

Zusammenfassend: Seine Bedeutung?

Mit ihm stirbt das 20. Jahrhundert endgültig. Im Zentrum dieser Zeit und des Denkens stand der Nationalsozialismus und die Judenvernichtung. Er gehörte zu den Wächtern der Erinnerung. Er war durchdrungen von dem Gefühl, dass der Holocaust ein ständig präsentes Geschehen ausserhalb jeder Zeit sei. Dieses Gefühl schwindet. Zur Zeit entsteht eine Welt, als hätte es die Judenvernichtung nie gegeben. Landsmanns Lebensthema war: der Tod.

Das Audio ist hier

Siehe auch:  LE MONDE und DER SPIEGEL