25 Nov

Vietcongfahne über Bern

von Felix Schneider für Viceversa

Alain Claude Sulzer: Unhaltbare Zustände

Ein Schauspieler, der von London ans Basler Theater gekommen war, habe ihm vor über 40 Jahren, voller Begeisterung, die Schaufenster von Globus gezeigt, so erzählt Alain Claude Sulzer. Zwar hielt sich Sulzers Begeisterung für die Globus-Auslagen damals offenbar in engen Grenzen, aber der Schriftsteller bewahrte doch die Idee als möglicherweise interessanten Stoff jahrelang im Gedächtnis.

Roman einer Zeitenwende

In den letzten Jahren hat sich Sulzer immer näher an die Autobiographie herangepirscht, ohne je wirklich eine zu schreiben. Der Roman Zur falschen Zeit von 2010 erzählte die Geschichte einer Vatersuche, mit starken erotischen Szenen übrigens – eine Spezialität von Sulzer, die ihm so schnell keiner nachmacht.  Aus den Fugen von 2012 führte schon die Figur des Star-Pianisten ein, die auch im neuen Roman auftaucht. Postskriptum von 2015 spielte in der Zeit des Nationalsozialismus, und in dem Erinnerungsmosaik Die Jugend ist ein fremdes Land von 2017 tauchte der Autor tatsächlich als erzählendes Ich auf. Hier war Sulzer der Autobiographie am nächsten.

Und nun also Unhaltbare Zustände: historisch nach der NS-Zeit die 68er-Zeit und biographisch die Fortsetzung der Jugend? Nicht ganz. Er denke nicht in werkübergreifenden Zyklen, sagt Sulzer, und er spricht in dem neuen Roman, abgesehen von einem kurzen Prolog, nicht von sich selbst, sondern von einem anderen. Aber es ist der Roman einer Zeitenwende, die Sulzer erlebt hat: Die Handlung spielt 1968, der Ort der Handlung ist Bern, angereichert mit dem zauberhaften Zauberlädeli aus Basel. Hauptfigur ist Stettler: 58 Jahre alt, seit vielen Jahren der bewährte und geachtete Schaufensterdekorateur des Warenhauses «Quatre Saisons». Ein einsamer Mann, der für seine Arbeit lebt. Eine wirklich vorhandene Frau gibt es in seinem Leben seit dem Tod seiner Mutter nicht, wohl aber eine Phantasiegestalt. Am Radio hört er die Pianistin Lotte Zerbst, verliebt sich in ihr Spiel und schreibt ihr sogar Verehrungsbriefe. Weiterlesen

11 Nov

So viele Leute

kamen zur Vergabe des Schweizer Buchpreises! Das ziemlich grosse Foyer des Basler Theaters war proppenvoll, die Stimmung prima. War ja auch ne angenehme Veranstaltung, klappte alles prima. Luft nach oben gibt’s allerdings auch:

Die Moderatorin wirkt wie eine Politikerin, die vorträgt, was jemand anderer geschrieben hat. Sie erfuhr von ihrem Ipad, wie tief bewegt sie war von dem oder jenem Roman.

Die Laudationes? Eher bieder. Vor allem: Was aus den Werken vorgelesen wurde – ausgezeichnet vorgelesen von Cathrine Störmer – hatte  nichts zu tun mit dem, was in den Laudationes vom jeweiligen Roman gesagt wurde.

Da war beispielsweise in der Laudatio von einem Schaufensterdekorateur die Rede, von 1968, von der Vietcong-Fahne auf dem Berner Münster – in der Lesung aber hörte man von einem «Ich», das in der Schule mittelmässig ist.

Oder: Eine Laudatorin sprach von einem jugendlichen Tunichtgut, der schnell bereit ist, seine Fäuste einzusetzen. In der Lesung ging es um eine Geburt und einen Wohnungsumzug eines jungen Paares.

Dass Laudationes und Lesungen nicht koordiniert sind, lässt sich einfach erklären: Vorgelesen wird halt einfach der Anfang des Romans. Da muss man nicht lang auswählen.

Auch Jurysprecher Manfred Papst turnte sich runter. Gefragt, ob das Geschlecht des Autors / der Autorin bei der Beurteilung durch die Jury eine Rolle spiele, verneinte er heftig, nein, nein, gar keine.

Aha. Also reiner Zufall, dass jetzt, da der Feminismus so ein bisschen Mainstream wird, plötzlich, oh Wunder, und ganz im Unterschied zu früher, 4 Frauen und ein Mann auf die Shortlist kommen.

Nächste Frage: Spielt es bei der Beurteilung durch die Jury eine Rolle, ob ein Werk ein Debut ist oder eben von einem Autor stammt, der schon ein Werk hat, oder womöglich sogar schon einmal auf der Shortlist des Buchpreises stand?  Nein, nein, beteuerte der Jurysprecher treuherzig, das spiele gar keine Rolle, nur das Werk werde beurteilt. In dem Moment sagte eine Frau neben mir: «Ja, aber, wenn er es doch weiss?» Eben.

Aber eines muss man sagen: Apéro riche danach war riche und gut.