Vietcongfahne über Bern
von Felix Schneider für Viceversa
Ein Schauspieler, der von London ans Basler Theater gekommen war, habe ihm vor über 40 Jahren, voller Begeisterung, die Schaufenster von Globus gezeigt, so erzählt Alain Claude Sulzer. Zwar hielt sich Sulzers Begeisterung für die Globus-Auslagen damals offenbar in engen Grenzen, aber der Schriftsteller bewahrte doch die Idee als möglicherweise interessanten Stoff jahrelang im Gedächtnis.
Roman einer Zeitenwende
In den letzten Jahren hat sich Sulzer immer näher an die Autobiographie herangepirscht, ohne je wirklich eine zu schreiben. Der Roman Zur falschen Zeit von 2010 erzählte die Geschichte einer Vatersuche, mit starken erotischen Szenen übrigens – eine Spezialität von Sulzer, die ihm so schnell keiner nachmacht. Aus den Fugen von 2012 führte schon die Figur des Star-Pianisten ein, die auch im neuen Roman auftaucht. Postskriptum von 2015 spielte in der Zeit des Nationalsozialismus, und in dem Erinnerungsmosaik Die Jugend ist ein fremdes Land von 2017 tauchte der Autor tatsächlich als erzählendes Ich auf. Hier war Sulzer der Autobiographie am nächsten.
Und nun also Unhaltbare Zustände: historisch nach der NS-Zeit die 68er-Zeit und biographisch die Fortsetzung der Jugend? Nicht ganz. Er denke nicht in werkübergreifenden Zyklen, sagt Sulzer, und er spricht in dem neuen Roman, abgesehen von einem kurzen Prolog, nicht von sich selbst, sondern von einem anderen. Aber es ist der Roman einer Zeitenwende, die Sulzer erlebt hat: Die Handlung spielt 1968, der Ort der Handlung ist Bern, angereichert mit dem zauberhaften Zauberlädeli aus Basel. Hauptfigur ist Stettler: 58 Jahre alt, seit vielen Jahren der bewährte und geachtete Schaufensterdekorateur des Warenhauses «Quatre Saisons». Ein einsamer Mann, der für seine Arbeit lebt. Eine wirklich vorhandene Frau gibt es in seinem Leben seit dem Tod seiner Mutter nicht, wohl aber eine Phantasiegestalt. Am Radio hört er die Pianistin Lotte Zerbst, verliebt sich in ihr Spiel und schreibt ihr sogar Verehrungsbriefe. Weiterlesen