Auf dem Glatteis der Liebe. «Warum wir zusammen sind» von Martin R. Dean

Publiziert in Viceversa am 11.03.2019

 

Kurzgefasst

Martin R. Dean verfolgt eine Freundschaftsgruppe von 40- bis 50-Jährigen, die in den Nullerjahre des 21. Jahrhunderts verschiedene Formen des Zusammenlebens, der Freundschaft und der Sexualität erproben. Sie leben in einer Zeit der Verunsicherung. Die Utopien ihrer Jugend sind verblasst, die Sehnsucht nach dem ungelebten Leben ist ihnen geblieben.
Dean erzählt in kurzen schnellen Episoden, als ob er durch das Jahrzehnt surfen würde. Es gelingt ihm, von den privaten und gesellschaftlichen Krisen so zu erzählen, dass die Kraft zur Liebe, die in seinen Figuren steckt, spürbar wird.


 

Die Ehe hat in der hohen Literatur keinen guten Ruf. Nur wenn die Ehepartner, wie in der Odyssee, viele Jahre getrennt sind, bewahren sie sich Begehren und Liebe. In bürgerlicheren Zeitläuften, bei Goethe, Flaubert oder Fontane ist die Ehe ein Desaster. Am besten gar nicht dran denken. Kurt Tucholsky: «Es wird nach einem happy end / im Film jewöhnlich abjeblendt». Warum? Eben weil nach dem Kuss die Ehe kommt, und im höheren Alter lautet dann das Fazit: «Die Ehe war zum jrößten Teile / vabrühte Milch un Langeweile.»

Obwohl aus der Ehe längst die Zweierbeziehung wurde, ist es für einen Schriftsteller bis heute leichter, traditionsgetreu die Zweisamkeit zu verachten und vom Rausch wilder Erotik zu erzählen. Leichter schon, aber nicht realistisch, denn viele Menschen leben ja zu zweit. Wer es, wie Martin R. Dean mit dem Programm des Realismus ernst meint, muss, auch wenn das weder trendig noch verkaufsfördernd ist, auch die Zweierkiste im 21. Jahrhundert neu durchdenken.

Nun kommt allerdings auch bei Dean die Langweiligkeit der Ehe samt Seitensprung in der Tiefgarage und Lust an allerhand sexuellen Abnormitäten vor. Davon erzählt ein erfundener französischer Autor namens Dupral, dessen Roman im Roman Deans Protagonistin Irma, von Beruf Übersetzerin, ins Deutsche bringt. Duprals Weltsicht ist duster: «Was Menschen einander antun, ist vulgär, niederträchtig, primitiv». Täglich sehen wir Bilder von geschundenen Menschen in Kriegen. Die Brutalitäten, die sich heute noch im Internet abspielen, haben wir vielleicht morgen auf unseren Strassen. Möglich deshalb, dass im 22. Jahrhundert nur noch die Qual Lust bereiten und Liebe durch Hass ersetzt sein wird. Vor diesem Hintergrund sind «Paare, die sich in gegenseitiger Treue üben», «die einzigen Aufständischen unserer Zeit». «Sie sind grosse Liebende, denn sie widersetzen sich der Entwertung und der Pornografisierung ihrer Beziehung.» Damit setzt Dupral, und mit ihm Dean, die Gegenthese zur Verachtung der Ehe.

Irma, Marc und die anderen

Duprals Roman ist ein Spiegel für den Hauptteil von Deans Roman, in dessen Zentrum die Übersetzerin Irma und der Architekt Marc stehen. Sie gelten als Musterpaar und geraten in die Krise. Sie entfremden sich voneinander. Natürlich ist ein verheimlichter Seitensprung im Spiel. Sie schlafen nicht mehr miteinander, sie kränken und belauern sich. Die Worte, die sie tauschen, werden zweideutig. Das Ende ist Trennung und Zusammenbruch – und dennoch kämpfen sie zäh umeinander.

Irma und Marc sind das Zentrum einer Gruppe von Freundinnen und Freunden, die fast alle um die 40 sind und nahezu alle Möglichkeiten des Zusammenseins ausprobieren.  Da gibt es eine Beziehung, deren Kitt aus Streit und Gewalt besteht. Ein anderes Paar praktiziert die Polyamorie. Zwei Naturfreaks verzichten auf jede Form der Zivilisation, auch auf die Medizin – mit Todesfolge. Vermögenden Ältere regeln ihr Verhältnis vertraglich. Die attraktive, unglückliche Alleinstehende ist die Versuchung aller Männer und die Gefahr aller Ehen. Die Psychoanalytikerin analysiert und die Afroamerikanerin trainiert sich kaputt. Eifersüchteleien und Gerangel um die Positionen in der Gruppe kommen dazu. Für noch mehr Verunsicherung sorgt die Eintrübung der ökonomischen Verhältnisse in den hier geschilderten Nullerjahren. Geld wird da und dort knapp.

Die überraschendste Figur ist Matti, der Sohn von Irma und Marc. Mit seiner Unberechenbarkeit, seinem Pendeln zwischen Rebellion und Anhänglichkeit, zwischen Schroffheit und Zuneigung hält er nicht nur seine Eltern sondern auch die Lesenden in Atem. Ihm gehört die Zukunft: er hat ein Röhrchen mit Samen nach Lissabon geschickt, nun wird er Vater eines Kindes mit zwei lesbischen Müttern und zeugt wenig später auch mit seiner Freundin ein Kind. Er sagt locker, er könne sich schon andere Beziehungsformen vorstellen als die altmodische Zweierkiste, aber für Ma und Pa sei die doch ganz ok.

Was hält die Fülle zusammen?

Dean präsentiert das Ringen um glückbringende Formen des Zusammenlebens, um Treue und Freundschaft nicht nur als private Angelegenheiten, sondern als Kampf um die Dimension der Zukunft. Eine seiner Figuren diagnostiziert: «Die Zukunft war verloren gegangen». Etwas Haltloses habe sich im 21. Jhd der Menschen bemächtigt. «Keiner wusste mehr, was richtig und was falsch war.» Angesichts der drängenden Probleme wie der Klimaveränderung «blieb für grosse Entwürfe kein Raum mehr», dennoch aber verspüren die Menschen «den Sog, der von der Zukunft» ausgeht und die Sehnsucht nach dem ungelebten Leben, nach der Utopie. Ein älteres, wohlhabendes Paar stellt der Freundschaftsgruppe ein Hotel zur Verfügung: «Ein Ort, wo wir nachdenken und zu uns kommen, Neues ausbrüten, zusammen oder auch allein sein können.» Der

Architekt Marc entwirft ein Altersheim und einen Garten der Zukunft. Er sagt: «Wenn wir nicht wieder gestalten lernen, eingreifen, korrigieren, weiterentwickeln, dann werden wir zu Sklaven der technischen Entwicklung und des Kapitals.»

Der Titel ist eine Falle

Wer auf die Ankündigung «warum wir zusammen sind» eine explizite Auskunft erwartet, wird enttäuscht. Eine Falle ist auch der allwissende Erzähler des Romans, denn er hat die Übersicht verloren. Seine Art zu erzählen erinnert an das Surfen im Netz: eine schnelle Folge kurzer Episoden und Bilder. Trotz häufiger Nah- und Grossaufnahmen – eine Träne im Auge – wahrt dieser Erzähler Distanz – ist es wirklich eine Träne?, fragt er sofort.  Unerklärbar bleibt das Wimmelbild der Welt, das er vermittelt, und immer wieder überraschen ihn und uns schnelle Stimmungsumschwünge der Figuren. Die «instabilen Zeiten» von denen die Rede ist, sind hier auch Erzählweise geworden.

Die Kraft der Liebe

Der Roman beginnt am 31. Dezember 1999, in der Silvesternacht des neuen Jahrtausends, mit einem grossen, schönen Bild: die Romanfiguren gleiten übers glatte Eis, in der Luft der Eisbahn liegen harte Rock ‘n’ Roll- und sanftere Dream Pop-Klänge. «Das Flutlicht war angegangen und tauchte den Winterhimmel in tiefes Nachtblau, die kahlen Bäume bildeten eine scherenschnittartige Kulisse, und das Eisfeld verwandelte sich in einen glitzernden Spiegel. Irmas Haare flogen im Wind». Der Hauptteil des Romans spielt dann zehn Jahre später. Ein Epilog anno 2016 zeigt, dass überraschenderweise einige der Lieben und Freundschaften überlebt haben.

Man kann an dem Roman von Martin R. Dean kritisieren, dass er oft mehr reflektiert als erzählt und dass nicht alle Charaktere scharf genug gezeichnet sind, um sich in der Personalfülle zu behaupten, aber die Hauptsache ist gelungen. «Die Art, wie er die Kraft der Liebe deutlich macht, indem er den Zerfall einer Ehe erzählt, ist meisterhaft». Das sagt ein Buchhändler von Duprals fiktivem Roman im Roman. Es gilt genau so für Deans Roman insgesamt: Er schildert die Kraft der Liebe, indem er von den privaten und gesellschaftlichen Krisen des 21. Jahrhunderts erzählt. Vortrefflich.