Das Jüdische Museum Berlin, dessen Dauerausstellung wegen Erneuerung geschlossen ist, zeigt «Welcome to Jerusalem», eine – ja, was ist denn das? Eine Ausstellung? Auch! Ein Multiplex-Kino? Auch das. Ein computergesteuerter multimedialer Erlebnis-Parcours? Ebenfalls! Und eine Kunsthalle dazu. Jedenfalls ein Meisterstück der Vermittlung: klug und unterhaltsam. Hier können Besucherinnen und Besucher stundenlang verweilen und viel erfahren, ohne müde zu werden. Für Abwechslung im Medienmix ist gesorgt. Zusätzlicher Anreiz für die Auseinandersetzung mit dieser Ausstellung sind die Kontroversen, die sie hervorgerufen hat.
Die Show beginnt mit einer Überraschung. Statt der Konflikte, an die alle sofort denken, wenn sie von Jerusalem hören, sehen sich die Besucherinnen und Besucher von drei Grossleinwänden umstellt, auf denen Auszüge aus dem Dokumentarfilm «24 h Jerusalem» von Volker Heise gezeigt werden. 70 Filmteams haben im April 2013 einen Tag lang 90 Bewohner Jerusalems in ihrem Alltag begleitet. Zu sehen sind Strassenszenen, Arbeitssituationen, Menschen am Checkpoint oder im Restaurant usw. Es erscheint der Alltag, der trotz allem funktioniert, vielleicht das solideste Fundament der zerrissenen Stadt, eine der wenigen Hoffnungen im alle dominierenden Streit.
Vermessung der heiligen Stadt
Die Ausstellung präsentiert 15 Themenfelder. Unter dem Titel «Die Vermessung der Stadt» werden Karten und Stadtpläne vom Mittelalter bis in die Gegenwart gezeigt. Und hier lässt sich eine bis heute gültige Erfahrung machen: Es gibt verschiedene Jerusalems. Gläubige Menschen sahen und sehen diese Stadt durch die Brille ihrer Überzeugungen und halten, was sie sehen, für Realität.
Der Verfasser einer Karte von 1581 z.B. fand Jerusalem exakt so, wie Ezechiel die Stadt in seiner Vision gesehen hat: von viereckigem Grundriss und im Zentrum der drei Kontinente Afrika, Asien und Europa.
Nicht minder eigenwillig ist die Wahrnehmung, die anno 2016 zu dem Stadtplan führte, den das israelische Tourismusministerium herausgab. Er verzeichnet von 57 Sehenswürdigkeiten nur eine muslimische und fünf christliche. Nach Protesten von Kirchen und palästinensischen Organisationen veränderte sich das Abbild der Wirklichkeit in einer Neuauflage der Karte.
Die verschiedenen Visionen der Stadt können sich auch überschneiden. Wenn das die Fanatiker von heute wüssten! Auf vielen Karten erscheint der muslimische Felsendom als jüdischer Tempel oder als christliche Kirche. Auf einer Karte von 1571 wird der Felsendom als «Templum Salomonis» bezeichnet.
Eine computeranimierte Karte vermittelt auf anschauliche Weise die Geschichte der Stadt. Zu einer leicht fasslichen Erzählung der geschichtlichen Fakten werden in verschiedenen Farben die Ausbreitung von jüdischen, römischen, christlichen und moslemischen Reichen auf den Grundriss der Stadt projiziert. Dabei lässt sich nicht verheimlichen, dass die Stadt, mit einer Unterbrechung von ca. 100 Jahren, eintausenddreihundert Jahre lang unter moslemischer Herrschaft stand.
Ein stimmungsvolle Rauminstallation ist den Jerusalem-Pilgern gewidmet. Hunderte von verschiedenartigen Kreuzen, dazu kostbare, schöne, skurrile Erinnerungsstücke, Mitbringsel, Reliquien, Souvenirs aller Art zeigen die reiche Objektkultur der Pilger. Bis heute gibt es spezialisierte Tätowierer, die Kreuze als Erinnerung an die Reise nach Jerusalem tätowieren.
Der grösste Raum heisst «Die Heilige Stadt». Drei grosse Bildschirme zeigen Filme über die Riten der drei Religionen. Drei Modelle zeigen die Westmauer, den Tempelberg und die Grabeskirche im Zustand nach ihrer Erbauung anno 335. Eine Rarität ist das grosse Modell des Haram asch-Scharif, des heiligen Tempelberg-Bezirks, das in seiner ursprünglichen Form für den osmanischen Pavillon der Weltausstellung in Wien gebaut wurde. Auch in diesem wie in vielen anderen Räumen lassen Videostationen Persönlichkeiten zu Wort kommen, die das jeweilige Thema aus subjektiver Sicht betrachten. Hier: Der Muezzin der Al-Aksa-Moschee erzählt von seiner Familientradition, ein ultraorthodoxe Rabbi singt zur Klampfe, ein arbeitssuchender junger Äthiopier müht sich um einen Miniam, ein Franziskaner zelebriert jeden Morgen ganz allein eine Messe und spielt die Orgel in der Grabeskirche, ein Pfarrer tauft in der Himmelfahrtskirche und erzählt, wie deren Glocken vom deutschen Apolda nach Jerusalem kamen.
Oft werden Besucherinnen und Besucher in mediale Inszenierungen mitten hineinversetzt. Im Raum, der dem jüdischen Tempel gewidmet ist, können sie ein Brandopfer in 3D miterleben. Ein anderer Raum ist als Hotellobby ausgestaltet, in der sie sich ausruhen und mit der Geschichte der grossen Jerusalemer Hotels befassen können. Sie können inmitten eines Rundhorizonts Filmausschnitte über die Geschichte des Nahostkonflikts erleben.
Die Ausstellung schliesst mit aktueller Kunst, einer Reihe von persönlichen Videozeugnissen und dem vollständigen Dok-Film 24 h Jerusalem. Die palästinensische Künstlerin Mona Hatoum hat die – absurden – Grenzen Palästinas auf ein empfindliches Material gezeichnet, nämlich auf Seifen aus Nablus. Unter den Videozeugnissen ist der Bericht der Schriftstellerin Zeruya Shalev, wie sie Opfer eines palästinensischen Attentats wurde, unvergesslich.
Einen Schritt zurücktreten
Kuratorin Cilly Kugelmann und ihr Team haben sich angesichts der Unmöglichkeit einer Gesamtdarstellung des Komplexes «Jerusalem» dazu entschlossen, die «Heiligkeit» zu thematisieren, die der Stadt zugesprochen wird. Diese Entscheidung ist Ausdruck einer Grundhaltung der AusstellungsmacherInnen. Ihr Denken bewegt sich auf einer Ebene über oder unter den jeweiligen Religionen und politischen Ansprüchen. Sie nehmen nicht Partei sondern Distanz. Ihr Ansatz ist multiperspektivisch. Sie beobachten und schildern möglichst genau. Diese Haltung vermittelt etwas von der dringlichen Versöhnung. Indem sie verschiedene Ansprüche an die Stadt, israelische wie palästinensische, in Gedanken nebeneinander stellt, bewahrt sie etwas von der Utopie, dass diese auch in der Wirklichkeit koexistieren könnten. Ausserdem: Berlin liegt nicht in Palästina. Die europäischen Intellektuellen und Kulturkonsumenten sind Beobachter, und nichts ist peinlicher als Beobachter, die Betroffene mimen.
Die beobachtende, multiperspektivische Darstellung des Konflikts erregt allerdings mit Notwendigkeit die Ablehnung oder gar die Wut aller Konfliktbeteiligter, die – aus welchen Gründen auch immer – Ausschliesslichkeits- und Alleinvertretungsansprüche haben. Palästinensische Künstler und Künstlerinnen haben die Mitarbeit an der Ausstellung verweigert. Für das israelische Massenblatt «Israel today» und die deutsche «Jüdische Rundschau» bedeutet jede Abweichung vom Totalanspruch Israels auf Palästina und auf dessen Geschichte eine Verneinung von Israels Existenz.
Am Beispiel: Die Ausstellung erzählt vom Bedürfnis verschiedener Menschen, in Palästina begraben zu sein. Sie stellt nebeneinander: Theodor Herzl, der in seinem Testament den Willen äusserte, in Jerusalem begraben zu sein, wenn denn der Judenstaat realisiert sei. Und Jassir Arafat, der in seinem Testament den Willen äusserte, in Jerusalem begraben zu sein, wenn denn der palästinensische Staat mit der Hauptstadt Jerusalem realisiert sei. Die Webseite jewishjournal.com erhebt darob ein grobes Geschrei: “Herzl and Arafat are listed side-by-side, as if this intellectual, non-violent Zionist leader and this antisemitic arch-terrorist are moral equals”.
Hier ist der Totalitätsanspruch und die Weigerung, die Begrenztheit des Vergleichs wahrzunehmen, mit Händen zu greifen. Vielleicht ist der Unwillen, minimale intellektuelle Leistungen zu erbringen, eine der vielen Konfliktursachen im Nahen Osten. Wenigstens der Denkfaulheit kann eine Ausstellung wie «Welcome to Jerusalem» in Berlin entgegenwirken.