Laudatio auf Dorothee Elmiger
zur Verleihung des Conrad Ferdinand Meyer-Preises, Zürich, Januar 2018
Literatur mit Innovationsrisiken, Literatur von prägnanter künstlerischer Eigenart in Bezug auf Stil, Komposition und Experiment – solche Literatur vermisst der Schriftsteller Felix Philipp Ingold im Literaturbetrieb von heute so sehr, dass er mit dem Gedanken liebäugelt, jeder Literatur-Preis sei heute ein Verrat an der Kunst. So jedenfalls äusserte er sich im September letzten Jahres in der Neuen Zürcher Zeitung.
Die beiden Romane von Dorothee Elmiger sind Kunst, formal neu, und zwar nicht aus marktstrategischen Gründen, sondern aus innerer Notwendigkeit. Darüber möchte ich ein paar Bemerkungen machen.
„Einladung an die Waghalsigen“ spielt in einem ehemaligen Kohlenrevier. Die einst blühende Montanindustrie hat eine Wüste hinterlassen. In unterirdischen Stollen brennt Feuer, das Land sackt ab, die Menschen verlassen das kaputte Gebiet. Geblieben sind v.a. die Polizei und der Sicherheitswahn der Restbevölkerung. Zwei Frauen, die Schwestern Margarete und Fritzi Stein, Töchter des Polizeikommandanten und einer geflohenen Mutter unternehmen Exkursionen. Margarete erkundet die geistige Welt der Bücher, Fritzi die äussere Realität. Sie sind die zu spät gekommene und verlorene Jugend, sie haben keine Anleitung für die Zukunft, sie haben keine Verbindung zur Vergangenheit. Sie suchen den Fluss Buenaventura. Sie suchen Zukunft, Utopie, Leben. Sie suchen nach einer Möglichkeit, von der Welt, in der sie leben, sich überhaupt ein Bild zu machen. Auf ihrer Suche finden sie Nachrichten über verschüttete Traditionen der Arbeiterbewegung, der Anarchisten, der Sozialisten, Utopisten. Sie finden auch Menschen, mit denen sich ein Bündnis zur Revolutionierung der Welt schliessen liesse. „Einladung an die Waghalsigen“ ist getragen von einem mutigen und radikalen Willen zur Utopie und Gesellschaftsveränderung. Elmiger gelingt es, die Situation der Jugend, die Sehnsucht nach Revolution, die Selbstreflexion der Literatur in mächtige, autonome Bilder und Metaphern zu fassen.
Der Roman „Schlafgänger“ handelt, wie die Autorin sagt, „von allem“. Mich hat interessiert, wie er das Thema Flucht aufgreift, weil er auf grossartige, preiswürdige Weise das Grundproblem gelöst hat, das entsteht, wenn Flucht zum Thema von Literatur und Kunst wird. Das Grundproblem ist: In den reichen Ländern gibt es einen Konsens, dass wir nicht alle Flüchtlinge reinlassen können. Das bedeutet: wir schliessen die Grenzen und überlassen die Fliehenden dem Elend oder dem Tod. Wenn uns aber ein Autor einen tragischen Einzelfall zeigt, sind wir gerührt und wollen ihm sofort Asyl geben. Das Problem der Einzelfalldarstellung stellte sich schon, als die Literatur versuchte, die nationalsozialistische Vernichtung der Juden zu thematisieren. Theodor W. Adorno berichtete von einer Frau, die nach einer Aufführung des dramatisierten Tagebuchs der Anne Frank tief erschüttert sagte: Ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen.
Nun ist Mitleid mit dem individuellen Fall sicher besser als kaltherzige Abweisung. Aber Einfühlung in den Spezialfall lässt doch das Grauen des Ganzen in den Hintergrund treten oder beschönigt es sogar. Nahe liegt die Empfindung: Das Ganze wäre weniger schlimm, wenn wenigstens dieses Mädchen oder dieser Flüchtling verschont worden wäre.
Die schriftstellerische Lösung, die Elmiger für dieses Problem gefunden hat, lautet: die Lücke. Der Flüchtling kommt als Romanfigur gar nicht vor und es wird gar keine lineare Fluchtgeschichte erzählt. Aber in dem Stimmengewirr, aus dem der Roman besteht, tauchen hartnäckig immer wieder Sprachfetzen und Bilder aus dem Themenfeld Flucht auf. Plötzlich, unvermittelt und nur kurz redet eine Stimme von Geschehnissen an den Grenzen in Basel oder in Mexiko, von Wärmebildkameras, vom Blick in einen Camion, in dem Menschen eingepfercht sind, vom Irrgang durch Wälder, von Schlagzeilen über Flüchtlingskriminalität. Plötzlich sitzt eine nackte Gestalt in der Ubahn, liegt ein Körper auf dem Bahnhofperron… Die Menschen scheinen geradezu besessen von Bildern der Flucht und strengen sich sehr an, diese zu verleugnen, zu verdrängen, zu vergessen.
Dorothee Elmigers „Schlafgänger“ zu lesen, ist eine irre Erfahrung. Dabei scheint am Anfang alles ganz einfach: Wir lesen Ausschnitte aus einer Konversation, eine Reihe von Personen unterhalten sich miteinander. Bald aber wird klar: Die Sprechenden haben keine festen Identitäten. Da tritt einer aus seinem Haus und sieht sich von unten am Fenster stehen. Eine andere widerspricht sich in ihren Äusserungen krass. Textteile werden wie Bausteine montiert, sie sind keine authentischen Äusserungen von fest umrissenen Figuren. Die Figuren sind nur Stimmen und nehmen verschiedene, schnell wechselnde Rollen ein. Eine der Figuren, genannt „Der Logistiker“, leidet an chronologischer Schlaflosigkeit und halluziniert. Was kann da noch als Wirklichkeit gelten? Ich als Leser irre zwischen diesen menschlichen und gedanklichen Bruchstücken herum wie ein Flüchtling. Das eben ist die irre Lese-Erfahrung. Ich befinde mich unter Gespenstern und bin ständigen Grenzüberschreitungen ausgesetzt: Realität und Fiktion sind nicht mehr eindeutig geschieden. Und inmitten dieser Verunsicherung entsteht natürlich das Bedürfnis, absurde Mauern hochzuziehen und willkürliche Grenzen zu befestigen.
Elmigers Erzählweise ist jederzeit offen für Reflexion und Querdenken. Unerwartete Verbindungen entstehen. So ist z.B. der Körper ein wichtiges Thema. Der Körper der Flüchtlinge soll zum Verschwinden gebracht werden soll. Es gab Flüchtlinge, die sich die Fingerkuppen abgeschliffen haben, um für den Erkennungsdienst unkenntlich zu werden und sozusagen selbst ihren eigenen Körper zurückzubauen. Heimat- und Fremdheitsgefühle beginnen für uns im Körper. Vielleicht fühlen wir uns gelegentlich in unserem Körper zu Hause, jedenfalls beobachten wir, wie er uns fremd wird, zum Beispiel im Alterungsprozess. Im Schlaf stürzen wir in die Körperlosigkeit. Ganz unterschiedlich bewertet wird der Körper – je nachdem ob er einem Millionen schwer gehandelten Fussballer gehört oder einem marokkanischen Bauern. Elmiger reflektiert auch eine extreme künstlerische Arbeit über das Verschwinden, die der Dramatik des Fluchtthemas wohl angemessen wäre – wenn es denn noch eine künstlerische Manifestation war. Die Performance hiess „In search of the miraculous (songs for north Atlantic)“ und bestand darin, dass der junge Bas Jan Ader 1975 ein winziges Segelboot bestieg und auf den Atlantik auslief. Das Boot hat man unterdessen gefunden…
Im Roman ist ein Journalist zu hören, von dem es einmal heisst – ich zitiere: „er sei (…) zu dem Schluss gekommen, dass es nicht darum gehe, vorzugeben, man könne sich vorstellen, was andere erlebten oder fühlten, es gehe aber mit Sicherheit darum, sich genau dafür zu interessieren.“
Das Interesse, das Dazwischen-Sein, bezeichnet den Ort dieses Romans. In diesem Text finden wir weder Identifikation mit Flüchtlingen noch kalte Distanz ihnen gegenüber. Stattdessen: Anteilnahme ohne Selbstaufgabe. Und wir finden das Bewusstsein einer Verpflichtung, das Gefühl, in einer Schuld zu stehen. Die französischen Interessen, les „intérêts“, sind schließlich auch die zu bezahlenden Zinsen. Wir, die wir keine Flüchtlinge sind, leben in diesem Zwischenreich, in dem die Flüchtlinge so präsent sind wie Gespenster. Für dieses Zwischenreich hat Dorothee Elmiger eine neue, überzeugende Erzählweise gefunden.
Und zum Schluss noch dies: Wir sind hier ungefähr 50 Leute. Das ist die normale Grösse von Auditorien, vor denen anspruchsvolle Literatur verhandelt wird, in Literaturhäusern, auf Festivals, in Buchhandlungen. Auf Radio SRF 2 Kultur gibt es Sendungen wie 52 Beste Bücher oder Kontext, die anspruchsvolle Literatur verhandeln, von Homer bis Elmiger, und über 100 000 Leute erreichen. Diese einzigartige Möglichkeit, Literatur vor grösserem Publikum zu verhandeln, würde bei Annahme der No Billag Initiative zerstört.
Ich danke Ihnen.