06 Sep

Sautreiben

Kontertext: 06. Sep 2016 – Die Welt ist aus den Fugen – und unsere Medien diskutieren irrelevanten Unsinn wie ein Burkaverbot. Was ist los?

Bei den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern ist die AfD soeben zweitstärkste Partei geworden. Verkörpert wurde sie im Wahlkampf von einem Spitzenkandidaten, Leif-Erik Holm, der einfach nett ist. Und wo hat er das gelernt? Als Radioreporter! Als Radioreporter in den sensiblen Morgenstunden, wenn der Moderator, wie die FAZ schreibt, besonders viel dransetzen muss, dem Hörer nicht auf die Nerven zu gehen. Die Basler Zeitung dazu: «Er hat diese Radio-Stimme, die nichts anderes zu sagen scheint, als: ‚Hey Leute, bald ist wieder Weekend!’»

So werden wir wieder einmal an die Symbiose zwischen Politik und Medien erinnert. Sie beruht auf Interessenüberschneidungen. Beiden, den Politikern wie den Journis, laufen die Leute davon. Beide müssen Aufmerksamkeit erregen und gegen Glaubwürdigkeitsverlust ankämpfen. Den Medien fällt die Aufgabe zu, für gute Stimmung in der krisengeschüttelten Gesellschaft zu sorgen. Sie sollen unterhalten, zerstreuen und die Aktivitäten der Parteien als wesentlich und spannend erscheinen lassen. Die Medien sollen ihre Konsumenten «abholen», wie es in der Journalistensprache heisst, d.h. ihnen den Eindruck vermitteln, sie seien ins gesellschaftliche Geschehen wirklich einbezogen.

 

Drei Themen, die es bringen

Die AfD hat ihren Wahlsieg (21,4% der abgegebenen Stimmen) mit drei Themen errungen: Migration, Islam, Merkel. Alle drei sind tendenziell auch Hauptthemen in den Medien, europaweit.

«AfD-Wahlerfolg ist ein Debakel für Angela Merkel», titelt der Tagesanzeiger auf der Frontpage nach dem Abstimmungssonntag und fährt dann fort: «Ist die Kanzlerin noch die richtige Chefin für die CDU? Nach den neuesten Wahlen wachsen die Zweifel.» Sowohl der Bericht als auch der Kommentar von Berlin-Korrespondent Dominique Eigenmann sind ganz auf die Kanzlerin zugeschnitten, obwohl der Autor weiss: Merkel ist nicht die Ursache des Debakels. Ganz am Schluss seines Kommentars fordert er nämlich mehr Einsatz für soziale Gerechtigkeit: «Der deutsche Staat muss wieder mehr da investieren, wo sich die Leute nicht nur vernachlässigt fühlen, sondern es sind. Da, wo die Schulen und Läden schliessen, der Bus nicht mehr fährt, die Feuerwehr nur noch am Wochenende ausrückt…»

Wenn das ideologische Hauptgeschäft lautstark getätigt ist, darf der Korrespondent am Rande auch etwas von der sozialen Wirklichkeit erscheinen lassen. Das stört nicht das grosse Ganze. Unter Markus Somms Parole, Merkel sei die am meisten überschätzte Politikerin, finden sich fast alle von Mitte bis ganz rechts. Und um diese plumpe Personalisierung noch als mutige Tat erscheinen zu lassen, vergibt NZZ-Feuilletonchef René Scheu Schreibaufträge an Cora Stephan, die den Mainstream zur verfolgten Minderheit erklärt. In Deutschland herrsche «Friedhofsruhe», verkündet sie und bestätigt den Lieblingstopos der Rechten: die Öffentlichkeit sei fest in der Hand linker Ideologen (NZZ vom 20.8.2016).

 

Religion wird wieder gebraucht

«Wir sollten die religiöse Brille absetzen!», riet die Journalistin Kristin Helberg, die lange in Damaskus gelebt hat, am 29.8. im Deutschlandfunk und fuhr fort: «Was der einzelne Muslim tut, tut er aus unserer Sicht immer nur, weil er Muslim ist. Also irgendein Marokkaner, der Taschendiebstahl begeht, ist ein muslimischer Dieb. Oder ein Kosovoalbaner, ein Bosnier, der eine Straftat begeht, macht das, weil er ein Muslim ist. Wir führen alles immer nur auf die Religion zurück bei den Muslimen. Das machen wir umgekehrt nicht. Wenn wir beim Klischee bleiben und ein Pole klaut ein Auto, dann ist das kein christlicher Autodieb. Und ein bayrischer Bankräuber ist auch kein christlicher Verbrecher.» Man muss schon daran erinnern, dass auch Muslime Dinge tun, nicht weil sie Muslime sind, sondern weil sie gebildet oder ungebildet sind, arm oder reich, sozialen Aufstieg oder soziale Diskriminierung erfahren haben etc.

Die Überschätzung der Religion kann man auch auf ganze Länder übertragen: Der Islam sei nicht demokratiefähig, heisst es dann, und schon spielen sozioökonomische Faktoren, westliche Aussenpolitik, koloniale Grenzziehungen keine Rolle mehr. Auch patriarchale Herrschaft wird immer mal wieder umstandslos «dem Islam» zugerechnet.

Zur Bestätigung solcher Verzerrung haben Journalisten eine probate Methode entwickelt: Die Strassen- oder Publikumsumfrage. Man frage irgendeine zufällig ausgewählte Frau, möglichst jemand Ungebildeten, und sie wird bestätigen: Ja, Männer herrschen eben über die Frauen, das ist bei uns so im Islam… Und das bleibt dann als bestätigte Realität so stehen, wenn Journalisten ihren Job nicht machen. Wenn sie nicht fragen, wo und wie im Islam die Geschlechterverhältnisse geregelt sind. Wenn sie keinen vergleichenden Blick werfen in, sagen wir mal, christliche Familien in Syrien oder in alawitische oder drusische.

Schlicht unerträglich ist die Burka-Debatte der letzten Wochen. Wenn Sicherheitsdirektor Mario Fehr (SP) und NZZ-Chefredaktor Eric Gujer gemeinsam ins Feld ziehen, um die islamische Frau zu befreien, so wäre doch die Zeit gekommen für einen Aufschrei in den Medien: Die Herren sind unglaubwürdig! Es gibt keine Zwangsbefreiung von aussen! Frauen wehren sich gemeinsam – nichts dergleichen war zu vernehmen. Stattdessen: Im hochangesehenen Echo der Zeit diskutieren 12 Minuten lang CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter und SVP-Nationalrat Claudio Zanetti über ein Burkaverbot. Zanetti ist nämlich, obwohl SVPler, gegen ein Burkaverbot, und das finden die Sendungsmacher interessant. Faktisch erhalten zwei von jeder Sachkenntnis Unberührte eine carte blanche, um ihre Ressentiments unters Volk zu bringen. Es gehe um die Islamisierung, ist da zu hören. Vom «unsinnigen Antirassismus-Gesetz» ist die Rede. Das «Wiederhinstehen für unsere Werte» wird propagiert. Es wird klar gesagt, was Integration heisst, nämlich: «einordnen», «unsere Gepflogenheiten leben».

Die religiöse Brille wird aufgesetzt, wenn es um den Islam geht, weil wir selber neuerdings wieder eine Religion propagieren und einen ideologischen Kreuzzug veranstalten: den fürs christliche Abendland, von dem wir selbst allerdings nicht wirklich überzeugt sind. Das macht uns, viele von uns, so unberechenbar und gefährlich.

 

«Flüchtlingskrise» – schon als Begriff ein Skandal

Die Publizistikwissenschaft wird irgendwann beschreiben, wie in den Medien die Wertschätzung der deutschen Willkommenskultur innerhalb eines Jahres unterminiert, zerstört, schliesslich ins Gegenteil verkehrt wurde. Es wird eine Geschichte des journalistischen Opportunismus werden. Heute herrscht Skepsis vor, die humane Behandlung von Flüchtlingen stösst auf Ablehnung, die Abschottung auf Akzeptanz. Sehr viel Kraft wird für die Verdrängung gebraucht: Wir wollen an unsere Humanität glauben, während im Mittelmeer 30 000 Tote ruhen, die seit dem Jahr 2000 auf der Flucht ertrunken sind (Quelle: Pro Asyl, Frankfurt am Main).

Der syrische Autor Mohammad Al Attar zeigt derzeit in Europa sein Theaterstück «While I Was Waiting», das, im Unterschied zu den Medien, sehr viel von der syrischen Realität und den syrischen Menschen vermittelt. Gefragt, wie es ihm in Westeuropa ergehe, wenn er Zeitungen lese oder TV schaue, sagte Al Attar auf einer Publikumsdiskussion in Basel: Er lese von einer verkehrten Welt. Er lese von einer Flüchtlingskrise. Es gebe keine Flüchtlingskrise. Bei ihnen, in Syrien, dort sei die Krise, und der Krieg. Die Flüchtlinge seien die Folge davon.

 

Mut zur Lücke!

Wenn eine Sau durchs Dorf getrieben wird, rennen alle hinterher. Und wenn alle zehn Tage eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird, dann rennen fast alle alle zehn Tage einer anderen Sau nach. Abseitsstehen führt zum Ausschluss aus der Gemeinschaft.

Wir brauchen einen Journalistenpreis, der nicht geschriebene Artikel und nicht gesendete Beiträge auszeichnet. Belohnt werden müsste, wer sich an der Burka-Debatte nicht beteiligt, wer Merkel nicht anschwärzt, wer nicht von der Flüchtlingskrise spricht. Das wäre, angesichts des ökonomischen und politischen Drucks, der auf den Medien lastet, schon viel, denn im Journalismus hat sich eine Ethik des Mitmachens etabliert: Dabei sein ist alles! Vorne und schnell dabei sein! Kein Thema verpassen! Als Rechtfertigung hört man von Journalistinnen und Journalisten oft: Ach, wir sind doch nicht so wichtig. Egal, was wir tun oder lassen, die Welt geht ihren Gang. Im Netz ist sowieso alles zu haben.

Das ist eine bequeme, falsche Bescheidenheit. Was erwähnt und wie berichtet oder eben nicht erwähnt und nicht berichtet wird, hat Einfluss auf die Gesellschaft. Neutralität gibt es dabei nicht. Medien haben wesentlich zum Aufstieg von Blocher und seiner SVP beigetragen. Journalistinnen und Journalisten haben Verantwortung. Dessen müssen sie sich bewusst sein.