Warum nur schweigt sie? Über „Scham“ von Inès Bayard

Im Roman «Scham» schildert die französische Autorin Ines Bayard einen Mord als Folge von Gewalt und Schweigen: eine Frau als Opfer und als Täterin.

Der Plot, in Kürze

Ein Pariser Ehepaar in den besten Jahren, Anfang dreissig: Er startet grade durch zur vielbeachteten Karriere als Jurist. Sie ist Vermögensberaterin in einer Bank. Und sie, Marie, wird eines Tages von einem Vorgesetzten vergewaltigt. Brutal vergewaltigt. Sie schläft kurz danach mit ihrem Mann, wird schwanger und ist der tiefen Überzeugung, dass ihr Kind vom Vergewaltiger stammt. Aber sie bringt es nicht fertig, irgendjemandem auch nur ein Wort von dem zu sagen, was sie erfahren hat. Stattdessen geht sie durch eine Hölle: Sie wird krank, halb verrückt, versucht eine Abtreibung, versucht zweimal, das Kind umzubringen, vernachlässigt das Kind, verwahrlost. Ihre Ehe gerät in die Krise, ihre Sexualität ist kaputt. Als ihr Mann endlich ahnt, dass etwas nicht stimmen könnte – er denkt an ehelich Untreue – veranlasst er einen Vaterschaftstest, von dem Marie erfährt, noch bevor die Resultate vorliegen. Sie geht davon aus, dass ihr Mann sie verlassen wird – und schreitet zur Tat: Sie vergiftet ihr Kind, ihren Mann und sich selbst. Das Resultat des Vaterschaftstests erfahren nur wir, die Lesenden…

Das Ende als Anfang

Bayard arbeitet mit Thriller-Elementen. Der Roman beginnt mit der Mordtat und das hat Folgen: Wir Lesende sehen Marie von Anfang an als Opfer und als Henkerin, und wir fragen uns nicht: Wie geht’s aus?, sondern: wie ist das möglich? Wie kann es zu diesem Ende kommen? Dass im Präsens erzählt wird, trägt dazu bei, den Körper zu aktualisieren. Wir erleben, was sich in Maries Körper während und nach der Vergewaltigung abspielt, in schockierender Deutlichkeit. Nach der Vergewaltigung steht Marie vor dem Spiegel im Badzimmer und legt sich Rechenschaft ab vom zerstörten Zustand ihres Körpers: Eindringlichere (!) Darstellungen von Verletzungen habe ich noch nie gelesen.

Wie im Werbefilm

Hauptthema des Romans ist aber natürlich die Frage: Warum schweigt sie? Sie schweigt, allgemein gesagt, weil sie in einer Welt lebt, in der das Böse und das Unglück tabuisiert sind. Die Menschen benehmen sich, als seien sie Teil eines Werbefilms. Vom «giftigen Glück» des Pariser Mittelstands, der «bobos» ist die Rede: Zuversicht ist angesagt. Man hat das Leben im Griff. Der Wohlstand bietet unendlich viele Zerstreuungsmöglichkeiten. Alle sind so nett. Alle arbeiten ständig viel zu viel und haben schon deswegen keine Zeit für Aufmerksamkeit untereinander. Manchmal erscheint Marie «das Unglück des Unterleibs wie die Rache des Schicksals an einem augenscheinlich zu einfachen Leben».

Bild und Gegenbild

Vielfache Scham- Schuld- und Frustrationsgefühle kommen hinzu. Da ist «die Scham, die jede Frau von Anfang bis Ende ihres Lebens nicht loslässt. Die Scham vor ihrem Körper, der nicht perfekt, nicht rein ist, der von der allgemeinen Moral missbilligt wird.» Das gesellschaftliche Bild der attraktiven Frau ist mächtig, und Marie macht aus sich systematisch das Gegenbild: Sie wird «eine schwache, feige, dicke Frau, die ihr Kind nicht liebt, ihre Familie im Stich lassen will, sexuell kaum aktiv ist, ineffizient und überfordert im Beruf, und schon zu alt.» Sie erliegt immer wieder der Verführung der Problemlosigkeit. Nur nicht stören! Und Gewalt gegen Frauen ist nach wie vor ein unliebsames Thema. Als Rechtsanwalt nimmt sich ihr Mann «selbstverständlich» das Recht zu verschweigen, dass sein Mandant eine Frau vergewaltigt hat.

Ein behütetes Mädchen

Kommt hinzu, dass Marie seit ihrer Kindheit nie gelernt hat, zu kämpfen und Schwierigkeiten zu überwinden. Ihre Ängste vor dem Verlassenwerden, vor dem Verlust der Sicherheit und vor Liebesentzug sind übergross. Ihr fehlt es an Mut – und den bräuchte sie, denn das Risiko, verurteilt oder der Übertreibung bezichtigt zu werden, wäre durchaus vorhanden, wenn sie sich als Opfer von männlicher Gewalt outen würde. Sie bringt es nur zur Sehnsucht, alles solle wieder so werden wie früher – und diese unrealistische Vorstellung behindert sie erst recht.

Laurent, ein Mann

Maries Mann, Laurent, nimmt im Roman einen breiten Raum ein. Er ist kein unsympathischer Kerl, seinem Kind, seiner Frau und seiner Familie durchaus zugewandt, ein begabter Jurist, aber ein einfaches Gemüt. Marie erfährt, was sie ganz hilflos macht: wie oberflächlich er ist, im Grunde. Er will arbeiten, etwas Geselligkeit, Ruhe und gelegentlich Sex. Aber wie schlecht es Marie geht, das verleugnet er, trotz gelegentlicher Nachfragen, meisterhaft. Marie gesteht sich ein, dass die Dusche für sie eigentlich befriedigender ist als die eheliche Penetration. Und sie entdeckt in sich einen Abgrund: «etwas wie Mitgefühl für ihren Vergewaltiger, der zur Gewalt des Geschlechtsakts stand» und es ablehnte, «sich in der sexuellen Routine fangen zu lassen».

Blick in die Arbeitswelt

Nebenbei schildet Bayard noch den Modernisierungsprozess in Maries Bank. Auch hier: viel Oberfläche und brutale Abgründe. Versprochen wird «Transparenz» und Kooperation, durchgezogen wird «hartes Management» und umfassende Kontrolle.

Vor drei, vier Jahren, als Inès Bayard diesen Roman schrieb, war sie grad mal 25 Jahre alt. Ein vielversprechendes Debut! Und ein Riesenerfolg in Frankreich. Derzeit lebt die Autorin wieder in Berlin und recherchiert für ihren nächsten Roman vor.

 

Inès Bayard: Scham.
Aus dem Französischen von Theresa Benkert, Zsolnay Verlag Wien 2020.
Französisch: Le malheur du bas. Albin Michel. Paris 2018.
Der französische Titel verweist auf den Körper, der deutsche ist umgezogen in die Psychologie. Deutsche  Verinnerlichung.
Wie wär’s mit: Schweigen. Oder, in Anlehnung an einen Titel von Christian Haller: Die verschluckte Gewalt.
Interview mit der Autorin auf Französisch:
https://www.youtube.com/watch?v=ElWxM1iLfHE
Und auf Deutsch, 5 Fragen an Ines Bayard:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/scham/978-3-552-05976-4/

Ausdrucksmöglichkeiten
Ines Bayard beruft sich auf zwei Vorbilder: Elfriede Jelineks Lust und Ingeborg Bachmanns Malina. 
Unter dem Titel Zeter und Mordio hat Gesa Dane
Vergewaltigung in Literatur und Recht untersucht (Göttingen: Wallstein 2005).
Im Vordergrund von Danes Betrachtung stehen Texte von Barockautoren wie Grimmelshausen, Lohenstein oder Calderón de la Barca sowie von Schriftsteller/-innen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts wie Wagner, Goethe, Kleist, Lessing oder Hahn-Hahn.
In einer lesenswerten Rezension von Danes Arbeit in der Zeitschrift «Querelles-net»
https://www.querelles-net.de/index.php/qn/rt/printerFriendly/406/414 heisst es: «Während die Literatur des Barock den Opfern noch Ausdrucksmöglichkeiten verleiht, das sexuelle Gewaltverbrechen bekannt zu machen, stellt Dane für das 18./19. Jahrhundert eine zunehmende Tabuisierung der „Vergewaltigung“ fest.»

Körperlichkeit
Grimmmelshausens Courasche wird mehrmals vergewaltigt, z.B. in Kapitel VI. Der «schlechteste Kummer» wird angedeutet: «indem sie ihre viehischen Begierden sättigten».
In Kleists Marquise von O ist die Vergewaltigung durch einen Gedankenstrich dargestellt. Explizitere Darstellungen finden sich wohl erst Ende des 20. Jahrhunderts.
Bayards Darstellung steht am Ende der Entwicklung. Expliziter geht nicht mehr. Bayard mobilisiert eine wilde Sprache, die die grausamen körperlichen Vorgänge schockierend spürbar macht. Eine Sprache von unerhörter Körperlichkeit, auch in der Übersetzung von Theresa Benkert.