03 Jul

Keller à la carte

Tagelied.

Du willst dich freventlich emanzipieren
Und aufstehn wider mich mit keckem Sinn,
Ein rotes Mützlein und die Zügel führen,
Du schöne kleine Jakobinerin?

Zur Politik nun auch dein Wörtlein sagen,
Die Spindel meidend in den Ratsaal fliehn?
Wohl gar mit weißer Hand die Trommel schlagen,
Wann einst wir gegen die Tyrannen ziehn?

Berufest dich auf meine eignen Lehren
Von Freiheit, Gleichheit und von Menschenrecht?
O laß, mein Kind, mit Küssen dich bekehren,
Dies eine Mal errietest du mich schlecht!

Die Ketten all‘, von denen ich entbinden
Die Völker möchte, o Geliebte mein!
Als Blumenketten eng dir umzuwinden
Wird einzig nur mein Thun und Trachten sein.

Ich will dir einen festen Turm erbauen
Und drin ein Kämmerlein von Seide weich;
Da sollst du nur des Himmels Sterne schauen
Und mich, den Kerkermeister froh und reich!

Nie lass‘ ich dich dein langes Haar beschneiden,
Damit dein Denken um so kürzer sei;
So räch‘ ich an dem Weibe Simsons Leiden
Und bleibe ungeschoren, stark und frei!

So lang die lieben Nachtigallen schlagen,
Leb‘ ich in dir ein Stück Unendlichkeit;
Doch flieht die Nacht und wills auf Erden tagen,
Eil‘ ich für dich und mich zum Kampf der Zeit.

 

Drei Menus von Felix Schneider

Menu I

Als Vorspeise präsentieren wir für das erste Menu den Vorsatz, Kellers Tagelied naiv und ganz aus heutiger Sicht zu lesen: als Verspottung eines linken Mannes nämlich.

Die Entstehung des Gedichts reicht zurück in Kellers Zürcher Zeit von 1842 – 1848. Der erfolglose Maler ist aus München zurückgekehrt, wendet sich dem Schreiben zu, und: «Die Wende zur Dichtung ging einher mit einer Politisierung» (1). Auch der sprechende Mann im Tagelied gehört in die Zeit des Vormärz. Paternalistisch-ironisch staunt er über eine Frau, die eine rote Jakobinermütze anzieht, die Ideale der französischen Revolution realisieren und sich emanzipieren will. Das findet der sprechende Genosse niedlich: Mit Küssen und Blumen will er sie davon abbringen, dass sie seinen eigenen Lehren folgt. In der fünften Strophe wird er deutlich: Er will sie einsperren und lässt sie für seine eignen Kastrationsängste büssen. Er rächt sich an ihr für die Tat der alttestamentlichen Delila, die Simson die Haare geschnitten und ihn dadurch seiner Kraft beraubt hat. Und wenn dann der politische Kampf losgeht, so zieht er allein in die Schlacht. Die Frau bleibt zu Hause.

Zum Dessert gibt’s das süsse Gefühl: wir hätten unseren Keller an die letzte Frauendemo mitnehmen können. Wie klar verspottet er doch das paternalistische Frauenbild der bürgerlichen Revolutionäre.

Menu II

Ruth Klüger liest das Gedicht als «Zeugnis über die Anfänge der modernen Frauenbewegung» (2). Historisch aufschlussreich findet sie die Zweideutigkeiten des Gedichts: das Umkippen männlicher Selbstsicherheit in Angst.
Als professionelle Literaturwissenschafterin setzt Klüger bei der Form an. Das Tagelied ist die Gattung mittelalterlicher Gedichte, «in denen der Sprecher beim Morgengrauen Abschied von der Geliebten nimmt, mit der er eine angenehme Nacht in ihrer Kammer verbracht hat.» Am Anfang und am Ende des Gedichts spricht der selbstsichere Eroberer und Sieger des Tagelieds, der die Frau, mit der er doch eben geschlafen hat, herablassend zum Kind verkleinert. Er ist stolz auf seine liberale und fortschrittliche Gesinnung, die er der Frau aber verbietet. Ihre Gleichberechtigung lehnt er rundweg ab.
Das alte Tagelied aber ist nur «Verpackung», sagt Ruth Klüger. Im Inneren des Päckchens geistern weibliche Gespenster: zeittypische Produkte männlicher Ängste. Hinter dem Triumph des Mannes über die Frau im Tagelied steht der Triumph der Frau über den Mann in der Geschichte von der schönen Delila, ihrem Mann, dem «Superman der Bibel», die Haare schneidet und ihn so seiner magischen Stärke beraubt. Und mit Simson identifiziert sich nun der Sprecher von Kellers Tagelied. Er will Delilas Tat «am Weibe» rächen – «egal an welchem Weibe», wie Klüger bemerkt. Diese Ungeheuerlichkeit verrät viel über den Stand der Frauenemanzipation im 19. Jahrhundert.

Menu III

Auch die an der Universität Zürich lehrende Literaturwissenschaftlerin Frauke Berndt sieht, grundsätzlich, in der Form den wichtigsten Schlüssel zur Literatur. Stärker als Klüger versteht sie Kellers Gedicht als Parodie.

Das Tagelied, sagt sie (3), ist eine stereotypisierte Form der Liebeslyrik. Fest steht die Rolle des Sprechers (er klagt über das Ende der Liebesnacht, er muss wieder ins Leben, spricht die Frau an), fest steht die Stilhöhe (keine hohe Minne, es geht durchaus um Sex, aber nicht deftig), fest stehen die Themen und Bilder: die letzte Strophe in Kellers Gedicht etwa könnte in vielen Tageliedern stehen. Keller erzeugt Witz, indem er die Politik des 19. Jahrhunderts in das Tagelied einfügt, indem er die Sprachen der Politik und des Tagelieds vermischt. «Du willst dich freventlich emanzipieren» heisst: Du willst mich verlassen. «Aufstehen» kann heissen: politisch rebellieren oder das Bett verlassen. Die Ketten der Völker sind Sklaverei und Unterdrückung, die Ketten der Geliebten die Blumen. Mit Küssen bekehrt man die Frau, mit den Idealen der französischen Revolution das Volk. Keller macht sich über die Emanzipation lustig mit Hilfe der Form des Tagelieds.

Dann allerdings erfolgt, was Frauke Berndt die «Eskalation im Tagelied» nennt. Der Tagesliedsprecher rückt in die Rolle von Simson. Die Erzählung von dessen Depotenzierung und Kastration gibt einer kollektiven, gesellschaftlichen Angstphantasie Form, bannt sie in Bild und Geschichte. «Das ist weder Tagelied noch politisch, das ist Märchen und Mythos», sagt Frauke Berndt. Aus Spiel ist ernst geworden. Im Geschlechterkampf erfolgt die Ansage des Mannes: Ich habe die permanente Kastrationsdrohung, die mit dir verbunden ist, aufgehoben, indem ich dich unterwerfe. Als Herr bleibe ich ungeschoren, stark und frei.

Erst indem Keller das politische Thema mit dem Thema Liebe vermischt, kann er, in diesem Gedicht wie in vielen seiner Erzählungen, vorstossen in die kollektiven Phantasien seiner und – z.T. auch unserer – Zeit.

(1) Michael Andermatt in: Ursula Amrein (Hg): Gotttried Keller Handbuch, Metzler Stuttgart 2016
(2) Ruth Klüger: Gegenwind. Gedichte und Interpretationen. Paul Zsolnay Verlag Wien 2018, S. 22 – 26.
(3) Gespräch am 18.06.2019

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert