Mit Mariella Mehr gegen die Antimenschenrechtsinitaitive der SVP
Gegen die Mogelpackung „Selbstbestimmungsinitiative“
hat der AdS-Vorstand eine gute Erklärung verfasst:
NEIN zur sogenannten Selbstbestimmungsinitiative
Ein Aufruf des AdS für die Menschenrechte und die Freiheit der Literatur
Am 25. November 2018 stimmt das Schweizer Stimmvolk darüber ab, ob der Bundesrat in naher Zukunft gezwungen wird, die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK zu kündigen. Auch weitere Abkommen und bilaterale Verträge sind in Gefahr. Aber den Initianten der Volksinitiative «Schweizer Recht statt fremde Richter (Selbstbestimmungsinitiative)» geht es in erster Linie um die Menschenrechte. Das wird aus der Ent‐ stehungsgeschichte klar: Die Initiative wurde von der SVP lanciert, weil die Partei mit Volksbegehren die Bundesverfassung in Konflikt zur EMRK gebracht hatte. Zum Beispiel mit der Forderung nach automatischer Ausschaffung straffälliger Ausländerinnen und Ausländer.
In der Schweiz kann eine Mehrheit des Stimmvolks und der Kantone die Verfassung ändern. Eine Demokra‐ tie wird aber ohne den Schutz der Menschenrechte zur Diktatur der Mehrheit. Die Justiz muss Mehrheits‐ entscheide korrigieren können, wenn Einzelne oder ganze Minderheiten zu Menschen zweiter Klasse ge‐ macht werden. Für die Schweiz nimmt diese Funktion in letzter Instanz der Europäische Gerichtshof für Menschrechte in Strassburg wahr. Wer dieses Korrektiv abschaffen will, fordert nicht Selbstbestimmung, sondern das Vorrecht der Mehrheit, ungehindert über die Rechte der Einzelnen zu bestimmen.
Die Schriftstellerin Mariella Mehr hat einen solchen Zustand in ihrem Roman «steinzeit» beschrieben, der 1981 erstmals erschienen ist: «…dort rechtet, was zum richten geboren, dort werden das dunkle über‐ schwiegen, akten geführt, säuberlich numeriert…» Es folgt eine vehemente und poetische Attacke auf ein Verwaltungssystem, das jahrzehntelang jenische Kinder zu Verdingkindern machte. Im selben Jahr 1981 fiel eines der rechtlichen Mittel, mit dem auch Erwachsene, die den Alltagsnormen der Gesellschaft nicht ent‐ sprachen, weggesperrt werden konnten: Die «administrative Versorgung» wurde infolge der EMRK aufge‐ hoben. Sowohl «steinzeit» als auch diese Gesetzesänderung sind Meilensteine für die Schweiz.
Im Verbund mit politischen Bemühungen und dem Völkerrecht haben Autorinnen und Autoren zu Verbesse‐ rungen des Schweizer Rechts beigetragen. Dafür gäbe es weitere Beispiele zu nennen, etwa die Arbeiten von Maria Roselli zum Asbestskandal. Während sie tödliche Spätfolgen dieses Baumaterials dokumentierte, klagte die Witwe des Arbeiters Howald Moor vor Gericht. Diese Klage scheiterte an einer Verjährungsfrist. Erst 2014 zwang ein Urteil aus Strassburg die Schweiz, diese Frist sachgerecht anzusetzen und die Klage zu ermöglichen.
Nicht zu vergessen ist auch, dass die Schweiz die EMRK zuerst nur unter dem Vorbehalt ratifizieren wollte, dass sie Frauen von den politischen Rechten ausnehmen könne. Die Ratifizierung erfolgte dann nach der Volksabstimmung von 1971. Als 1990 in Appenzell Innerhoden die Frauen auf kantonaler Ebene immer noch nicht abstimmen durften, schritt ein Gericht ein – in diesem Fall das Schweizer Bundesgericht. Es liess nicht länger zu, dass eine Mehrheit der Stimmberechtigten das verfassungsmässige Recht der Frauen auf Gleichberechtigung per Volksabstimmung aushebelte. Jetzt die EMRK wieder zu kündigen, wäre etwa so peinlich wie die Verweigerung des Frauenstimmrechts. Dieser Schritt würde die Schweiz in eine Liga mit den autokratischen Kritikern der europäischen Menschenrechts‐Gerichtsbarkeit, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan, versetzen.
Damit ist nicht gesagt, dass jedes Urteil des Gerichtshofs in Straßburg perfekt sei. Die Rechtsfindung ist keine exakte Wissenschaft. Gerichte wenden Gesetze an, die allgemein formuliert sind, müssen aber auch das Besondere jedes einzelnen Falles – die vertrackten Geschichten der Einzelnen – in Erwägung ziehen. Ju‐ ristinnen und Juristen weisen darauf hin, dass die SVP mit dieser Initiative nicht zuletzt auf die Gerichte im Inland zielt: Sie will weniger Abwägung des Einzelfalls, mehr automatische Durchsetzung politisch gesetzter Normen. Das Ergebnis einer so dirigierten Rechtsprechung würde einem Roman gleichen, im dem alles, was die Figuren zu unverwechselbaren Menschen macht, fehlt.
Gute Literatur stellt gängige Auffassungen oft in Frage. Wenn also die Mehrheit regiert, ohne das Recht der Anders‐Denkenden, Anders‐Aussehenden, Anders‐Liebenden oder Anders‐Glaubenden zu respektieren, dann geht es der Literatur an den Kragen. Nicht nur, aber auch deshalb ruft der AdS – Berufsverband der Autorinnen, Autoren, Übersetzerinnen und Übersetzer der Schweiz – die Bevölkerung dazu auf, am 25. No‐ vember ein NEIN zur Anti‐Menschenrechts‐Initiative einzulegen.
September 2018 / AdS‐Vorstand